Komponist

ENGLISH  中文

Neue Musik?

Die Kunsthistorikerin und freischaffende Kulturjournalistin Margaret Jardas sprach mit dem Komponisten Fabian Müller:

Margaret Jardas: Im Frühling 2001 hat David Zinman zusammen mit dem Philharmonia Orchestra London eine CD mit Werken von Ihnen aufgenommen. Ihre Werke knüpfen irgendwie an die Klangwelt des Impressionismus an. Bei neuer Musik erwarte ich eigentlich ganz andere Klänge. Komponisten, die sich auf die eine oder andere Art von der Avantgarde abgewendet haben, schreiben mehr oder weniger tonale Musik. Ist das nicht ein Schritt zurück? Darf man da überhaupt von neuer Musik sprechen?

Fabian Müller: Was genau heisst «neu»? Man muss sich heutzutage genau überlegen, was dieses Wort bedeutet, was denn überhaupt «neu» sein kann. Inhaltlich hat sich über die Jahrhunderte nicht viel geändert. Es geht immer noch um Liebe, Schmerz und Tod, um die Palette von Gefühlen und Erfahrungen, die in der Kunst allgemein und speziell eben auch in der Musik zum Ausdruck kommen. Deshalb ist die Frage nach Neuem vor allem die Frage nach neuen Ausdrucksmitteln. Das ist eine Frage des Stils, und im Hinblick auf den Stil gab es natürlich eine beachtliche Entwicklung in den vergangenen Jahrhunderten. Ich verstehe die Entwicklungen der Musikgeschichte als ständige Erweiterung der klanglichen Möglichkeiten.

Was herkömmliche Instrumente unseres Orchesters betrifft, muss man sagen, dass diese Entwicklung inzwischen abgeschlossen ist. Auf der Geige gibt es keinen relevanten neuen Klang zu entdecken, der nicht bereits vor Jahrzehnten verwendet wurde. Ein Komponist, der heute meint, seine Musik sei neu, weil sein Stück für Geige solo auf den «normalen» Geigenklang verzichtet und aus lauter Spezialeffekten besteht, der ist entweder naiv oder macht sich etwas vor. Es gibt keinen Klang auf diesen Instrumenten, der nicht bereits in den 50er- und 60er-Jahren ausgelotet wurde. Wer also für diese Instrumente komponiert, schreibt hinsichtlich der «Materialfrage» nicht eigentlich «neue» Musik.

Man muss sich deshalb ernsthaft fragen, wessen Musik den heute «neu» ist, diejenige, welche die Erwartungshaltung der Avantgarde-Kreise erfüllt oder diejenige, die diese - wie auch immer - durchbricht und etwas anderes versucht. Dabei ist es sicher nicht interessant, Stile aus der Vergangenheit zu kopieren. Ich glaube viel mehr, dass die jüngere Generation sich einfach die Freiheit herausnimmt zu schreiben, was sie will, und eine meiner Meinung nach gesunde Rücksichtslosigkeit an den Tag legen gegenüber den Avantgarde-Kreisen, die genau zu wissen scheinen, wie es gegenwärtig klingen muss. Wenn man Leute aus diesen Kreisen etwas genauer ausfragt, was sie denn bei neuer Musik für Hörerwartungen haben, stellt sich heraus, dass es sich um stilistische und klangliche Elemente handelt, die keineswegs neu sind und vor 40 Jahren noch Provokation waren, heute aber längst der Vergangenheit angehören.

Ich gehöre auf keinen Fall zu denen, die die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte für einen Irrweg halten. Es gibt viele Komponisten und Komponistinnen dieser Zeit, die grossartige Musik geschrieben haben oder immer noch schreiben und die ich sehr schätze. Das 20. Jahrhundert hat der Kunstmusik eine ungeheure Befreiung gebracht. Diese Freiheit unverkrampft und undogmatisch zu nützen, und alles bisher musikalisch Entdeckte zu einer persönlichen Synthese zu bringen, das ist meiner Meinung nach die momentane Herausforderung für Komponierende.

Margaret Jardas: Sie glauben also an eine Zukunft der Kunstmusik. Was kann denn ihrer Meinung nach noch «neu» sein?

Fabian Müller: Wer heute noch nach neuen Klängen sucht, muss diese ehrlicherweise in der Elektronik suchen oder nach neuen akustischen Instrumenten-Erfindungen Ausschau halten. Mit einem Orchester in klanglicher Hinsicht «neue» Musik zu schreiben ist kaum möglich. Aber vergessen wir nicht: Klangmaterialien und musikalische Formen sind die - man könnte sagen - «materielle» Seite der Musik. Durch alles was in den letzten 600 Jahren musikalisch entdeckt und entwickelt wurde, hat der heutige Musikschaffende eine noch nie dagewesene Palette von Möglichkeiten.

Die Frage ist, hat er auch die Freiheit sie zu benützen. Und da gehen die Meinungen sehr auseinander. Viele Anhänger der avantgardistischen Ästhetik halten ausschliesslich das Verwenden der letzten Entwicklungen oder zumindest derjenigen der Nachkriegsavantgarde für legitim und hoffen auf eine Weiterentwicklung. Das Verwenden von beispielsweise tonalen Bezügen gilt in gewissen Kreisen geradezu als Verrat. Dieses Denken sollte man meiner Meinung nach nun am Beginn eines neuen Jahrhunderts hinter sich lassen, weil es - bei aller plausiblen Begründung - ganz einfach unfrei und dogmatisch ist. Eine schlechte Voraussetzung, um zu wirklich «neuen» Resultaten zu kommen.

Es kann heute nicht mehr um «tonal» oder «atonal» gehen. Meiner Meinung nach ist es heute eine Befreiung und auch eine Chance, wenn man sich vom Denken, die Musikgeschichte als geradliniges Kontinuum zu betrachten löst, wo Epoche auf Epoche folgt, entweder als Weiterentwicklung des Vorhandenen oder als Reaktion darauf. Es ist ja eine unbesteitbare Realität, dass im heutigen Konzertangebot sämtliche Epochen in einer noch nie dagewesenen Weise gleichzeitig präsent sind, und dementsprechend auch in unserem Bewusstsein. Man sollte versuchen, die Musikgeschichte als ständige Erweiterung der klanglichen Möglichkeiten zu sehen.

Wenn man die bis heute entwickelten musikalischen Mittel als Ganzes sieht und sich die Freiheit nimmt, sie auch als Ganzes zu verwenden, stehen wir eher an einem Beginn als an einem Ende. Die Schwierigkeit ist heute, in dieser immensen Palette von Möglichkeiten einen persönlichen Weg zu finden.

Margaret Jardas: Haben sie ihn gefunden?

Fabian Müller: Auf irgendeinem Weg bin ich, weiss aber nicht wohin er führt. Ich habe ein sehr nebelhaftes Gefühl davon, wie es in Zukunft weitergehen könnte. Wenn Sie mich aber fragen, warum ich heute so komponiere und nicht anders, dann ist meine einzige ehrliche Antwort darauf: weil ich nicht anders kann. Alle ästhetischen und philosophischen Begründungen folgen erst nachher. Es war mir immer ein Anliegen, das zu schreiben, was ich wirklich innerlich wahrnehme, ohne jegliche Konzessionen an heutige Hörerwartungen. Wenn ich das Bedürfnis habe, etwas aufzuschreiben und es stellt sich heraus, dass es zum Beispiel Anklänge an Mahler hat, dann hat das damit zu tun, dass ich Mahlers Musik eben sehr liebe und seit meiner Jugend so oft gehört habe, dass sie längst in mir verinnerlicht ist. Natürlich könnte ich das Wahrgenommene nun so verfremden, dass es avantgardistisch daherkommt. Doch warum? Die Beweggründe dafür wären mir suspekt. Natürlich spreche ich hier nur von subtilen Anklängen, die sich von selbst einstellen und nicht von längeren Passagen oder gar Stilkopie. Mit Stilkopien kann ich gar nichts anfangen.

Ausserdem ist für mich die Klangwelt des Symphonieorchesters noch immer das Grösste - für Elektronik konnte ich mich nie so richtig begeistern, sie war mir immer etwas zu kalt - also werde ich wohl weiterhin für die herkömmlichen Instrumente schreiben. Natürlich träume ich davon - wie es wahrscheinlich jeder Komponist tut - Klänge, die bisherigen und neue dazu, eines Tages auf noch nie dagewesene Art zu verwenden... daran arbeite ich.

Gewisse Synthesen von verschiedenen Stilmitteln einiger heutiger Komponisten können durchaus als «neu» bezeichnet werden, weil Musik noch nie in dieser Form erklungen ist. Dieses «Neue» ist zur Zeit in Europa vor allem in den nordischen oder baltischen Staaten zu finden.

Margaret Jardas: Am Anfang haben sie unterschieden zwischen Inhalt und musikalischem Material - wir haben bis jetzt hauptsächlich über das musikalische Material gesprochen. Gibt es auch «Neues», was den Inhalt betrifft?

Fabian Müller: Darüber möchte ich gerne etwas sagen, nämlich über das Bedürfnis eines Komponisten, überhaupt etwas zu schreiben, überhaupt diese undefinierbaren Dinge und Empfindungen, die ihn nicht loslassen, in Musik auszudrücken. Es gibt diese ewige Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, die Sehnsucht nach vollkommenem Glück, vollkommener Liebe, Ekstase, Schönheit. Die Musik der meisten Komponisten, die ich für gross halte, erzählt von der Freude an diesen wunderbaren Dingen, für die es sich zu leben lohnt - und gleichzeitig schwingt darin eine Melancholie mit - die Trauer darüber, dass man diese Dinge eben nie ganz erreicht. Solche Musik kann uns ergreifen, erschüttern, verzaubern. Sie entspringt einem Niemandsland irgendwo zwischen der Sehnsucht selbst und dem, was man herbeisehnt. Das beste Beispiel im 20. Jahrhundert für das, was ich meine, ist die Musik von Olivier Messiaen. Seine Musik ist für mich zukunftsweisend.

Dem rein intellektuellen Umgang mit Klang in den letzten Jahrzehnten ist diese transzendente Dimension der Musik etwas abhanden gekommen. Es ist wohl die Aufgabe der jüngeren und nächsten Generationen, der Kunstmusik diese Dimension wieder zurückzugewinnen. Meiner Meinung nach hat nur eine Musik dauerhaften Wert, die den Menschen als Ganzes anzusprechen vermag. Weder losgelöster intellektueller Kitzel noch Gefühlsschwärmerei ohne Logik befriedigt auf die Dauer. Über die «wissenschaftliche» Analysierbarkeit eines Werkes freuen sich allenfalls die Musikwissenschafter und Kritiker und oft auch nur deswegen, weil ihnen ein anderer Zugang zur Musik verwehrt bleibt. Der Begriff «Musikwissenschaft» birgt in sich sowieso schon ein Paradoxon. Denn das, was Musik wirklich ausmacht, beginnt dort, wo der Wissenschaft die Türen verschlossen bleiben. Konnte jemals jemand erklären, warum einem beispielsweise das Thema des 2. Satzes im Doppelkonzert von Brahms aus den Socken hebt? Und dies auch beim x-ten Anhören? Natürlich lässt sich viel über die Spannungsverhältnisse der Intervalle im Verlauf dieser Melodie sagen und es wird irgendwie offensichtlich, warum es sich um eine «gute» Melodie handelt. Aber hat jemals jemand durch solche - wissenschaftlichen - Erkenntnisse die Fähigkeit erlangt, eine ähnlich gute Melodie zu schreiben? Musik ist wie das Leben, sie lässt sich nicht erklären, und ein einzelnes Werk ist wie ein Mensch: Lange analytische Werkeinführungstexte sind wie anatomische Beschreibungen und wecken in mir den Verdacht, dass ich im Konzert eine klingende Leiche zu hören bekomme.

Margaret Jardas: Wenn Sie vorhin von dieser Sehnsucht nach dem Unerreichbaren gesprochen haben, ist das nicht eigentlich der Zeitgeist der Romantik?

Fabian Müller: Vieles was heute tonal klingt oder tonale Anklänge hat, wird als «Neoromantik» bezeichnet. Das geht manchmal auch meiner Musik so, und mir persönlich auf den Wecker... «Neoromantisch» ist ein so unscharfer Begriff - und wenn ich bedenke, dass oft schon ein paar Dreiklänge oder ein Melodiefetzen ausreichen, um Musik als neoromantisch zu betiteln, dann kommt mir das irgendwie lächerlich vor. Sicher, ich bin wohl ein «romantischer» Mensch, wenn «Romantik» eben diese Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, Transzendenten meint, aber warum dann «neo»? Ist denn Sehnsucht bloss die Empfindung einer Stilepoche? Ganz sicher nicht! Vielmehr ist dieses Gefühl ja etwas von dem, was den Menschen überhaupt ausmacht. Und das, was den Menschen ausmacht - das ist ja doch ewiges Thema jedwelcher Kunst. Romantik als menschlichen Ausdruck hat es immer gegeben, und wird es immer geben, weil die Sehnsucht immer da ist. Der Zeitgeist bestimmt eigentlich nur, auf welche Weise sich dieses Sehnen ausdrückt - und so ist die «Romantik» des 19. Jahrhunderts eigentlich nur eine Stilform unter allen anderen.

Margaret Jardas: Sie haben in Zürich und in den USA Komposition studiert. Ich frage mich, wie Komponieren überhaupt vermittelt werden kann. Wie wird man Komponist?

Fabian Müller: Komponieren zu unterrichten ist äusserst schwierig. Ein Lehrer kann allenfalls die Leidenschaft und Begeisterung für diese Tätigkeit wecken durch sein eigenes Beispiel. Da hatte ich mit meinem ersten Lehrer Josef Haselbach grosses Glück. In ihm brannte dieses Feuer und er hatte die Fähigkeit zu begeistern. Natürlich kann man gemeinsam Werke auseinander nehmen, fremde und eigene. Doch dadurch lernt man nicht zu komponieren, oder zumindest nicht das, was ich als Musik bezeichnen würde. Ein Lehrer kann eine Entfaltungshilfe sein. Entfaltung im wahrsten Sinne des Wortes, Entfaltung von etwas, was schon da war.

Mit zwölf habe ich angefangen zu schreiben. Meine ersten Werke waren Polkas, Walzer, Mazurkas. Und seither habe ich bergenweise Papier gefüllt, doch bis ich mich Komponist zu nennen wagte, war es ein langer Weg. Das Selbstbewusstsein amerikanischer Komponisten, das ich später erfahren durfte, hat mir dabei sicher geholfen.

Margaret Jardas: Ist die Schweiz ein «gutes» Land für Komponisten?

Fabian Müller: In mancher Hinsicht ja. Ausser Finnland, das ein kleines Paradies für Kulturschaffende zu sein scheint, ist es nirgends leicht. Wer sagt, er sei von Beruf Komponist, der wird in der Regel sogleich gefragt: «Und von was lebst du?». Eine berechtigte und manchmal unangenehme Frage! Komponieren ist ein Beruf, von dem nur ganz wenige leben können. Wir sind darauf angewiesen, Aufträge zu erhalten. Da Musik - im Gegensatz beispielsweise zur Malerei - ein flüchtiges Medium ist, heisst das für den Geldgeber, dass er einen reinen Erlebniswert finanzieren muss - und darum ist es hier schwieriger als in anderen Kunstsparten, Gönner zu finden. Es gibt sie aber immer noch - private Mäzene, die aus Leidenschaft oder Freude an der Sache in neue Musik investieren.

Von der öffentlichen Hand darf man etwas, sollte man aber nicht zu viel erwarten. Es ist ein Dauerzustand, dass alle Komponisten über zu wenig Beachtung und finanzielle Unterstützung von öffentlicher Seite klagen. Es ist aber so, dass international gesehen immense Möglichkeiten vorhanden sind - ich versuche immer, in dieser Hinsicht möglichst nicht schweizbezogen zu denken. Wenn man sieht, wie Kollegen Kämpfe mit den geldgebenden nationalen Institutionen führen, die schliesslich nur in Frustration enden, dann muss man sich vor Augen halten, dass die Schweiz eigentlich viel zu klein ist, um allen heutigen Tendenzen in der Kunst gerecht werden zu können. Sie ist ein wunderbarer Ort, um zu leben, aber man sollte sich als Kunstschaffender nicht ausschliesslich an der Schweiz orientieren, sonst stösst man - nicht nur finanziell - schnell an Grenzen.

Margaret Jardas: Woran arbeiten Sie momentan und wie sieht ihre nächste Zukunft aus?

Fabian Müller: Ich hatte 2003 ein ziemlich fruchtbares Jahr. Die Partitur einer Oper für Kinder, an der ich mehrer Jahre gearbeitet habe, konnte im Frühling beendet werden. Im Sommer sind zwei Werke entstanden, ein Quintett für Klarinette und Streichquartett, das im April 2004 uraufgeführt wird, ferner habe ich den vierten Satz meines Streichquartetts für grosses Orchester orchestriert. Momentan arbeite ich nun an einem Orchesterwerk für die Interlakner Musikfestwochen im August 2004.

Margaret Jardas: Musik des frühen 21. Jahrhunderts! Da dürfen wir ja gespannt sein!